„Traumatic Growth“ oder „posttraumatisches Wachstum“ ist ein relativ neuer wissenschaftlicher Blickwinkel auf Krisen und traumatische Erfahrungen. Dabei geht es nicht um zynischem Zweck-Optimismus („Krise als Chance!“) oder gewollt positives Denken.
Posttraumatisches Wachstum anerkennt das Trauma bzw. die Krise als etwas Schreckliches an, das sich niemand so wünschen würde.
Und gleichzeitig wird betont, dass die Überwindung einer tiefgreifenden Krise auch Stärke, Klarheit, Reife und Zufriedenheit hervorbringen kann.
Die klassische Heldengeschichte
Jede gute Heldengeschichte geht ungefähr gleich: Ein durchschnittlicher Mensch lebt ein durchschnittliches Leben bis etwas Unvorhergesehenes passiert. Ein Unglück, ein Unfall, eine lebensbedrohliche Herausforderung… und plötzlich ist nichts mehr so wie es vorher war. Um die Herausforderung anzunehmen und zu überwinden, muss der Held (oder die Heldin) über sich selbst hinauswachsen. Gar nicht so einfach, wenn von einer Sekunde auf die andere Grundannahmen über sich selbst und die Welt zerstört sind und alle bisherigen Strategien nicht mehr greifen. Gelingt es aber, so geht der Held / die Heldin gereift und gestärkt aus dem Abenteuer hervor. Auf dieser Jahrtausende alten Annahme beruht die Wissenschaft vom „Traumatic Growth“.
Wissenschaftliche Blickwinkel
George Bonanno, Professor an der Columbia Universität, postuliert, dass posttraumatisches Wachstum nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist: In seinen Studien kristallisierte sich heraus, dass 3 von 4 Menschen, die eine tiefgreifende Krise durchlebten, langfristig mehr Zufriedenheit und Stärke gewonnen hatten. Der Psychologe Richard G. Tedeschi und sein Team gehen sogar davon aus, dass bis zu 90 % von Trauma-Überlebenden mindestens einen Aspekt von posttraumatischem Wachstum kennen.
5 Aspekte des Wachstums
Die folgenden Veränderungen werden nicht nur in der wissenschaftlichen Literatur zitiert, ich konnte sie auch oft und oft bei meinen Klient_innen beobachten. Jedesmal bin ich beeindruckt und berührt und dankbar, Zeugin dieser Art von Veränderung sein zu dürfen.
- Prioritäten ändern sich. Das Leben wird plötzlich anders geschätzt. Kleine Dinge gewinnen an Wert. Materielles wird unwichtiger. Persönliche Beziehungen stehen im Fokus, Status verliert an Bedeutung.
- Wahre Freunde zeigen sich. Die Krise hat viele alte Beziehungen mit sich gerissen. Manche Menschen haben sich abgewandt. Aber neue Menschen sind aufgetaucht. Die Beziehungen, die jetzt noch da sind, werden als viel intensiver empfunden. Die Fähigkeit zum Mitgefühl ist um ein Vielfaches gestiegen.
- Ressourcen werden bewußter erlebt. Wer sich als schwach und ausgeliefert empfunden hat, kann auch das Gefühl der inneren Stärke deutlicher wahrnehmen. Eine Krise zu überwinden fördert das Selbst-Bewusstsein (ich konnte das und kann es wieder!)
- Werte und Ziele werden in Frage gestellt. Wenn sich alles auflöst, sucht man nach neuen Koordinaten. Neue Werte und Aufgaben werden wichtig. Oft findet ein Beruf(ung)s-Wechsel statt. Hobbys mit Sinn lösen frühere „sinnlose“ Zeitvertreibe ab.
- Spiritualität wird wichtig(er). Das existenzielle Erlebnis wirf existenzielle Fragen auf. Es wird (oft erstmals) über den Sinn des Lebens reflektiert , das eigene Leben wird in einen größeren Zusammenhang gebettet. Spirituelle Erkenntnis führt zu größerer inneren Zufriedenheit.
Was wir in der Psychotherapie daraus lernen können
Existenzielle Fragen entstehen aus existenziellen Erfahrungen. Erst durch das Unvorhergesehene (im Positiven: das Wunder; im Negativen: das Trauma) sind wir gefordert, uns charakterlich zu verändern. Jedes Trauma verändert unseren Blick auf uns selbst und die Welt, auf unsere Beziehungen und Werte, unsere Prioritäten und unseren Lebenssinn. Nicht immer zum Besseren. Aber oft.
- „Das Gute im Schlechten sehen“ könnte man diesen Blickwinkel nennen: Einen Verlust anerkennen und den Gewinn dennoch gleichzeitig sehen können. Für die Psychotherapie heißt das den Verlust / die Trauer / die Krise ausreichend zu würdigen. Und gleichzeitig den Blick auf den Wachstums-Gewinn zu richten.
- Nach einer Krise entwickeln wir offenbar mehr „Ambiguitäts-Toleranz“. Aus „Entweder / Oder“ wird „Sowohl / Als auch“. Der Mensch ist sowohl verletzlich, als auch stark. Freundschaften sind sowohl einzigartig, als auch ersetzbar. Das eigene Schicksal ist sowohl veränderbar , als auch unveränderbar. U.s.w. Diese Sichtweise eröffnet auch in der Therapie ganz neue Räume.
- Wer eine existenzielle Krise erlebt hat, weiß, dass das Leben unsicher ist, lässt sich davon aber nicht mehr einschüchtern. Die eigenen Möglichkeiten werden deutlicher wahrgenommen, die eigenen Un-Möglichkeiten und Grenzen aber auch. Leere Kilometer werden so eher vermieden.
- Die eigene Held_innen-Geschichte erzählen. Was wir über unser Leben erzählen steuert unsere Aufmerksamkeit, was wir erleben. Wenn wir eine Heldengeschichte erzählen, werden wir uns nicht als Opfer des Schicksals begreifen, sondern als Gestalter.